Ab welcher Einnahmemenge spricht man von einer Überdosierung von Vitaminen? Für manche Vitamine gibt es empfohlene Höchstgrenzen seitens der europäischen Lebensmittelbehörde. Eine niederländische Studie erhärtet aber den Verdacht: die EU-Definitionen zu sicheren Einnahme-Obergrenzen von Nahrungsergänzungsmitteln sind aufgrund unangemessener Methodik fehlerhaft und regelmäßig zu niedrig.
Maßstäbe, die an einen Untersuchungsgegenstand angelegt werden, entscheiden über seine Risikobewertung. Bei der Auslegung der maximalen Traglast einer Brücke beispielsweise müssen andere Kriterien berücksichtigt werden als bei der Definition der Belastungsgrenzen eines Bürostuhls. Werden beim Brückenbau notwendige Sicherheitsreserven auf den Bürostuhl übertragen, wären absurde Konstruktionsanforderungen die Folge. Genau in diese Richtung geht die Argumentation einer Untersuchung, die von Dr. Robert Verkerk und seinem Team angestellt wurde.
Lobby gegen Regulierungswut bei Nahrungsergänzungsmitteln
Verkerk ist gleichzeitig Gründer, Geschäftsführer und wissenschaftlicher Direktor des Interessensverbandes Alliance for Natural Health (ANH). Die ANH hatte es sich ursprünglich zur Aufgabe gemacht, notwendige Finanzmittel, die im Rahmen von Verfahren nach der EU-Nahrungsergänzungsmittel-Richtlinie (Richtlinie 2002/46/EG) erforderlich werden, anzuwerben.
Schnell hat sie sich jedoch zu einer anerkannten Lobby entwickelt, die sich für eine Deregulierung im Nahrungsergänzungsmittel-Sektor einsetzt und alternative medizinische Ansätze unterstützt.
Der Fehler: Vitamine und Nahrungsergänzungsmittel werden bewertet wie giftige Chemikalien
Die vorliegende Studie nimmt nun die Definitionen zu sicheren Einnahme-Obergrenzen (Tolerable Upper Intake Level (UL) oder Upper Safe Limit (USL)), die von EU-Behörden festgelegt wurden, zum Anlass einer grundsätzlichen Kritik. Diese ULs sollen Maximalmengen beschreiben, die von einem Vitamin oder Mineralstoff über Nahrungsergänzungsmittel zugeführt werden können, ohne dass für gesunde Personen das Risiko einer Gesundheitsgefährdung entsteht. Dies soll selbst für besonders empfindliche Menschen gelten.
Analog zum oben dargestellten Beispiel arbeiten Verkerk und seine Mitarbeiter hier heraus, dass die Regulierungsbehörden der EU dabei eine unangemessene Methodik anwenden. Diese sei nämlich entwickelt worden, um zweifelsfrei so niedrig wie möglich anzusetzende Grenzwerte für giftige Chemikalien festzulegen.
Damit wird aber sehr wahrscheinlich, dass Höchstmengen (ULs) bei so niedrigen Dosierungen festgelegt werden, dass verschiedene positive Gesundheitseffekte verhindert werden und zahlreiche sinnvolle Produkten aus dem Angebot verschwinden müssen.
Auch von internationalen offiziellen Stellen Kritik an Risikobewertung von Vitaminen in Europa
Die Autoren der Studie weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass bereits im Jahre 2006 von einer gemeinsamen Expertenkommission der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Ernährungs– und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) festgestellt wurde, dass undifferenzierte Grundlagenkonzepte zur Risikobewertung unangemessen sind. Die Kommission verwies hier namentlich auf das deutsche Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR).
Aus diesen Gründen ist die EU-Methodik zur Definition einer Überdosierung unzulänglich
Konkret nennt die Studie eine Reihe an entscheidenden Fehler, aufgrund derer die existierenden ULs nicht sachgerecht sind. So finden folgende Zusammenhänge in der EU-Methodik keine Berücksichtigung:
- Bei Nährstoffen ist nicht nur eine Über- sondern auch eine Unterdosierung mit negativen Effekten verbunden. Und die Unterversorgung ist weit verbreitet, wie die Nationale Verzehrsstudie Teil 2 zeigt.
- Abhängig von unterschiedlichen Aufnahmemengen können bei zahlreichen Nähstoffe Mehrfach-Nebenwirkungen auftreten.
- Bei bestimmten Nährstoffen wie dem Vitamin A in Form von Retinol gibt es in bestimmten Bevölkerungsgruppen eine Schnittmenge, die Gesundheitsrisiken ebenso einschließt wie gesundheitliche Vorteile.
- Je nachdem, in welcher molekularen Form ein Nährstoff innerhalb der gleichen Nährstoffgruppe vorliegt, kann ein unterschiedliches Risikoprofil bestehen. Beispiele sind hier Niacin und Inositolhexanicotinat oder Eisensulfat und Eisen-Bisglycinat.
Zu wenig Daten, Fehlcharakterisierungen von Risiken und regionale Gegebenheiten, die nicht auf einen Nenner zu bringen sind
Zudem scheitert eine präzise Risikobeschreibung einfach schon daran, dass in Bezug auf Nährstoffe nur unvollständige Daten vorliegen. Ein weiteres Problem besteht darin, dass angenommen wird, Risiken für die öffentliche Gesundheit werden genau dann größer, wenn der Abstand zwischen der empfohlenen Einnahmemenge und der sicheren Einnahme-Obergrenze geringer ist.
Dies kann zur Fehlcharakterisierung führen, die wie im Falle von Chrom oder Vitamin K in verschiedenen molekularen Formen ein Risiko unterschätzen oder wie bei Vitamin C sowie natürlichen Carotinoiden eine Gefahr überbewerten. Erschwerend kommt hinzu, dass in einem Zusammenschluss von Ländern mit derart unterschiedlichen Bevölkerungsprofilen und Ernährungsgewohnheiten eine Harmonisierung schlichtweg undurchführbar ist.
Ansätze, wie man Höchstgrenzen von Vitaminen besser bestimmen kann
Im Sinne einer sinnvolleren Methodik schlagen die Forscher ein Reihe an Maßnahmen vor, durch die nach Ihrer Auffassung ULs bei weitem sachgerechter definiert werden können:
- Eine differenziertere Darstellung von Risiken, die empirische Daten über ein tatsächliches Auftreten von konkreten Nebenwirkungen einbezieht.
- Dort wo es sinnvoll ist, sollten ULs sehr spezifisch für verschiedene Teile der Bevölkerung ausgearbeitet werden.
- Für einige Nährstoffe, die der gleichen Nährstoffgruppe angehören, sollten differenzierte ULs und gegebenenfalls auch Höchstwerte, über die hinaus eine konkrete Gefährdung eintreten kann, angegeben werden. Das gilt insbesondere dann, wenn unterschiedliche Grade der Bioverfügbarkeit beziehungsweise – abhängig von der aufgenommenen Menge – Giftigkeit bestehen. Dies ist beispielsweise bei Niacin und Nicotinamid der Fall.
- In den Fällen, in denen es eine Überschneidung von Risiko und Nutzen ab einer bestimmten Dosierung gibt, sollten praktisch umsetzbare Maßstäbe angegeben werden. Das können beispielsweise Kennzahlen wie das qualitätskorrigierte Lebensjahr (QALY) oder das behinderungsbereinigten Lebensjahr (DALY) sein. Bei beidem handelt es sich um statistische Verfahren, in denen ein Nutzen oder ein Schaden in Beziehung zu den damit verbundenen Kosten gesetzt wird. Dieser Vorschlag wurde bereits im Jahre 2007 von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) vorgetragen.
Im Ganzen wünschen sich die Wissenschaftler um Dr. Verkerk in Falle der Überschreitung von ULs (Upper Levels, Höchsgrenzen) eine umfassendere Risikobetrachtung bezogen auf fein differenzierte Untergruppen der Bevölkerung.
Verkerk, R. H., et al., A critique of prevailing approaches to nutrient risk analysis pertaining to food supplements with specific reference to the European Union, Toxicology. 2010 Nov 28;278(1), S. 17 – 26.