Die Rechtsunsicherheit bei Höchstgrenzen für Vitamine und Mineralstoffe in der EU bleibt bestehen und treibt weitere Blüten. Statt sich auf europäischer Ebene zu einigen, bis zu welchen empfohlenen Tagesdosierungen ein Vitamin als Lebensmittel angeboten werden darf und ab welcher Grenze ein Vitamin zwingend als Arzneimittel einzuordnen ist, gibt es weiter nur nationale Alleingänge. Ein weiterer, inhaltlich und rechtlich fragwürdiger Schritt wurde jetzt in Belgien gemacht.
Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA von „European Food Safety Authority“) hat in der EU unter anderem die Aufgabe, auf Basis wissenschaftlicher Gutachten Einnahmeempfehlungen zu Nährstoffen auszuarbeiten beziehungsweise zu aktualisieren. Davon sind Makronährstoffe ebenso betroffen wie beispielsweise Vitamine und Mineralstoffe, die unter dem Ausdruck Mikronährstoffe zusammengefasst werden. Darüber hinaus legt die EFSA erlaubte gesundheitsbezogene Aussagen – sogenannte Health Claims – fest, mit denen Hersteller und Anbieter die Inhaltsstoffe ihrer Produkte bewerben dürfen.
Für das Jahr 2006 war ein weiterer großer Wurf der EFSA angesetzt. In diesem Jahr erschien nämlich das Mammut-Gutachten „Oberes Toleranzniveau bei Vitamin- und Mineralstoffgaben“ (1). Hier wird in der Kurzfassung auf knapp 500 Seiten zu allen in Frage kommenden Stoffen eine wissenschaftliche Auffassung zu Obergrenzen einer sicheren Einnahme vertreten, bei der gesunde Menschen keinerlei Beeinträchtigung ihrer Gesundheit befürchten müssen. Dieser Wert wird auch Tolerable Upper Intake Level (UL) genannt und bezeichnet die Verzehrmenge eines Stoffes, die regelmäßig nicht überschritten werden sollte.
Einigung zu Obergrenzen für Vitamine kam auch nach 2006 nicht zustande
Auf Grundlage der EFSA-Gutachten sollten sich nun die EU-Kommission und die Mitgliedsländer sowie Interessensgruppen bis zum Jahre 2009 auf eine EU-weit einheitliche Definition der Höchst-Einnahmegrenzen von Vitaminen und Mineralstoffen einigen. Das allerdings ist wegen einer Vielzahl abweichender Auffassungen trotz intensiver Auseinandersetzungen nicht gelungen. Die Verhandlungspartner entschieden daraufhin, die Harmonisierungsgespräche auf unbestimmte Zeit zu unterbrechen. Bis die Initiative wieder gestartet werden kann, sollten die Mitgliedstaaten auf nationaler Ebene Höchst-Einnahmegrenzen festlegen.
Zugelassene Höchstmengen unterscheiden sich innerhalb der EU stark
Dies ist mittlerweilen in einigen EU-Ländern wie Frankreich sowie unter den Mitgliedern des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) wie Norwegen geschehen. Dabei wurden jedoch in einigen Fällen vom EFSA-Gutachten abweichende Maximalwerte eingeführt. Die letzte Festlegung von Grenzwerten fand nun in Belgien statt. Bei dieser belgischen Gesetzesgebung sind die festgelegten UL in nicht einem einzigen Falle mit denjenigen aus dem 2006er EFSA-Werk identisch.
Kleinere Abweichungen wie bei Zink, wo Belgien eine UL von 22,5 Milligramm angibt und die EFSA 25 Milligramm, sind dabei noch die Ausnahme. In der Regel sind die Unterschiede wie bei Vitamin A (Belgien: 1.200 Mikrogramm, EFSA: 3.000 Mikrogramm), Niacin (Belgien: 54 Milligramm, EFSA: zehn Milligramm) oder Magnesium (Belgien: 450 Milligramm, EFSA: 250 Milligramm) äußerst gravierend (2).
Überdosierung von Vitaminen (Hypervitaminose): Sichere Mengen
Vitamin | UL (EU) | UL (USA) | Toxische Wirkungen bei Überdosierung |
---|---|---|---|
Vitamin A | 3.000 µg | 3.000 µg | |
Beta Carotin | nicht definiert | 25 mg | lediglich reversible gelblich-Färbung der Haut ab 30mg/ Tag. Für schwere Raucher ab 20mg pro Tag nicht empfehlenswert. |
Vitamin D | 50 µg | 50 µg | |
Vitamin E | 300 mg | 1.000 mg | |
Vitamin K | nicht definiert | keine | sehr sicher, Studienlage aber gering |
Vitamin B1 | Kein UL, auch nicht für Säuglinge | Kein UL, auch nicht für Säuglinge | |
Vitamin B2 | Kein UL, auch nicht für Säuglinge | Kein UL, auch nicht für Säuglinge | |
Vitamin B6 | 25 mg | 100 mg | Bei der Einnahme von 100 mg Vitamin B6 über 36 Monate wurden leichte Nervenbeschwerden berichtet. |
Vitamin B12 | Kein UL, auch nicht für Säuglinge | Kein UL, auch nicht für Säuglinge | |
Niacin | 900 mg | nicht definiert | |
Biotin | Kein UL, auch nicht für Säuglinge | Kein UL, auch nicht für Säuglinge | |
Folsäure | 1.000 µg | 1,000 µg | |
Pantothensäure | Kein UL, auch nicht für Säuglinge | Kein UL, auch nicht für Säuglinge | |
Vitamin C | Kein UL, auch nicht für Säuglinge | 2.000 mg | hoch dosiertes Vitamin C ab 3.000mg täglich wird nicht mehr resorbiert, auch dann lediglich vernachlässigbare Verdauungsstörungen beobachtet (leichte Diarrhoe) |
Fehlende Abstimmung und undurchsichtiges Vorgehenbei Bestimmung Upper Level (UL)
Als Grund für diese doch ganz erheblichen Bewertungsunterschiede geben Experten an, dass hier die gleichen wissenschaftlichen Fakten aus unterschiedlichen Blickwinkeln interpretiert werden. So findet eine Verträglichkeitsüberprüfung bei einem möglichen Gefahrstoff auf ganz andere Weise statt als bei einem Nährstoff.
Im Resultat werden von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat weit auseinanderliegende Grenzwerte festgelegt. Ermöglicht wird dies durch Intransparenz in der Entscheidungsfindung, mangelnden Austausch und fehlende Orientierung auf Übereinstimmung. Abgesehen davon, dass so das Vertrauen auf ein wissenschaftliches Vorgehen Schaden nimmt, wird in vielen Fällen auch EU-Recht außer Acht gelassen.
Wie kann der gemeinsame Markt funktionieren?
Europaweit arbeitende Unternehmen stellt dies nun vor gravierende Probleme. Ein EU-Grundsatz sagt nämlich, dass Höchstwerte im gesamten Geltungsbereich übereinstimmen sollten. Nur so kann ein Produkt aus einem Mitgliedsland auch in einem anderen angeboten werden, selbst wenn es mit einzelnen nationalen Bestimmungen auf dem Zielmarkt nicht vollständig übereinstimmt. Das heißt, ein Hersteller der im EU-Land X ein Präparat unter Einhaltung der dort geltenden Regeln produziert, muss sich auf mindestens zwei Dinge verlassen können:
- dass die Regelfindung in diesem Land auf wissenschaftlichen Grundsätzen fußt und
- dass sein Produkt auch im EU-Land Y prinzipiell nicht beanstandet werden kann.
Undurchsichtige Rechtslage zur Höchstmenge an Vitaminen
Diese Rechtsunsicherheit kann durchaus dazu führen, dass Produzenten von Nahrungsergänzungsmittel mit existenzbedrohenden Maßnahmen belegt werden. So geschehen in Schweden, wo ein Hersteller zunächst ein Produkt vom Markt nehmen musste, da es eine Tagesdosis von 75 Milligramm Vitamin B6 enthielt. Im 2006er EFSA-Gutachten wird eine Obergrenze von 25 Milligramm genannt.
Vor Gericht allerdings gewann das Unternehmen, da im schwedischen Recht keine UL für Vitamine und Mineralstoffe vorgesehen sind, die EFSA–UL keine Rechtskraft haben und darüber hinaus selbst die EFSA im Jahre 2012 schon Stellungnahmen verbreitet hat, nach denen eine Obergrenze bei 25 Milligramm Vitamin B6 zu niedrig angesetzt ist. Kurioserweise hat Belgien jetzt ein Upper Level von sechs Milligramm festgelegt.
Quellen:
(1) Tolerable upper intake levels for vitamins and minerals, EFSA, Februar 2006, http://www.efsa.europa.eu/sites/default/files/efsa_rep/blobserver_assets/ndatolerableuil.pdf
(2) Royal Decree amending the Royal Decree of 3 March 1992 concerning the placing on the market of nutrients and foodstuffs to which nutrients have been added, http://ec.europa.eu/growth/tools-databases/tris/en/search/?trisaction=search.detail&year=2016&num=615